Der Zauberschlüssel


In Braunau lebte anfangs des 18. Jahrhunderts ein armes Ehepaar, dem der liebe Gott ein einziges Töchterchen geschenkt hatte. Diese hatte einmal einen sonderbaren Traum, den es nach dem Erwachen der Mutter erzählte: Dem Kind erschien im Schlafe eine engelsschöne Jungfrau, die es bat, allein um Mitternacht zu dem von einigen Bäumen umgebenen Weiher unweit des "Sax’schen Kreuzes" zu kommen. Dort werde, sobald die alte Klosteruhr zwölf schlägt, das Wasser zu schäumen beginnen und demselben ein feuerspeiender Drache entsteigen, der in seinem Rachen einen Schlüssel halte. Beherzt möge das Kind den Schlüssel ergreifen, worauf das Ungetüm wieder im Wasser verschwinde. Dann werde der Weiher plötzlich eintrocknen und auf seinem Grund eine Öffnung sichtbar werden, in der eine Truhe mit Schätzen steht, die sich mit dem Schlüssel öffnen läßt. Das Kind dürfe den Schatz behalten, als Lohn dafür, daß es die Traumgestalt dadurch erlöst und ihr zur ewigen Seligkeit geholfen habe.
Außerdem hatte die Jungfrau dem Kinde eingeschärft, allein zu erscheinen und weder aus Freude noch aus Schreck ein Wörtlein zu reden.
Tags darauf erschien die Jungfrau dem Kinde wiederum im Traume und bat es noch eindringlicher um Erlösung. Da faßte sich die Mutter ein Herz, sprach dem Mädchen Mut zu und geleitete es in der darauffolgenden Nacht bis in die Nähe des bezeichneten Ortes. Allein schritt das Kind zum Weiher.
Eben schlug die Klosteruhr "zwölf". Noch zitterte der letzte Schlag in der Luft, da begann das Wasser zu brodeln und zu kochen und einer mächtigen Welle entstieg mit weit geöffnetem Rachen der schnaubende Drache. An einem Reißzahn hing der Schlüssel. Starr, keines Wortes mächtig, stierte das Kind das Ungetüm an, das sich zu seinen Füßen wälzte und durch wiederholtes öffnen und Schließen des Rachens gleichsam bat, den Schlüssel zu ergreifen.
Doch die Angst des Kindes war größer als sein Wille. Gellend rief es die Mutter zu Hilfe. Da stürzte das Ungeheuer in den Pfuhl, daß die Wellen hoch aufspritzten.
Alsbald erschien tieftraurig die schöne Jungfrau und sprach wehmütig: "Wärst du doch standhaft geblieben, meine Rettung und dein Glück waren so nahe! Ich muß nun neuerdings so lange auf Erlösung warten, bis aus dem Holze von einem der Bäume, die an diesem Weiher wachsen, eine Wiege gezimmert wird. Dem Kind, das man in diese Wiege legt, darf ich erscheinen, und es um Erlösung bitten."



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